Spracherwerb von der Geburt bis zum Alter von 1,5 Jahren
In dieser Lektion lernen wir die ersten Schritte des Spracherwerbs eines Babys kennen, wann dieser Prozess beginnt und was die typischen Phasen bis zum Alter von 1,5 Jahren sind.
Schlüsselkonzepte
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Pränatale Erfahrung
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Prälinguistisches Stadium
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Lallen
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Phonetische Einheit
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Vorwörter
Einheit 1: Die ersten Töne
Der erste Schritt des Spracherwerbs beginnt, wenn sich das Baby noch in der Gebärmutter der Mutter befindet. Etwa im vierten Schwangerschaftsmonat beginnt der Säugling, Geräusche zu erkennen und die Stimmen der Umgebung zu hören. Babys werden also mit einem Wahrnehmungssystem geboren, das speziell auf das Hören von Sprache ausgelegt ist und zum so genannten Spracherwerbsapparat gehört. Neugeborene hören zum Beispiel bevorzugt die Stimme ihrer Mutter, was in hohem Masse auf die frühzeitige, stärkere Exposition dieser Stimme und die allgemeine pränatale Erfahrung zurückzuführen ist. Interessanterweise sind Säuglinge bereits vier Tage nach der Geburt in der Lage, die Laute ihrer Erstsprache von denen einer Fremdsprache zu unterscheiden. Nach der Geburt schränken die Unterschiede in der Anatomie des Mundes im Vergleich zu der von Erwachsenen die Fähigkeit des Babys, Sprachlaute zu produzieren, ein. In dieser vorsprachlichen Phase geben Babys Geräusche wie Weinen oder Wimmern von sich.
Abbildung 1: Anatomischer Unterschied des Mund- und Rachenraumes bei einem Kind (links) und einer erwachsenen Person (rechts).
Etwa ab dem sechsten Monat beginnt das Baby, klarere Laute zu erzeugen. Es ist in der Lage, seinen Mund bewusst zu öffnen und zu schliessen und die Zunge zusammenzuziehen, was zur Erzeugung von wortähnlichen Tönen führt. Beim so genannten Lallen kann ein Baby Laute wie "Mama", "aba" oder "dada" erzeugen, indem es einfach dieselbe Struktur immer wieder wiederholt. Interessanterweise ist das Lallen universell, d. h. alle Babys auf der ganzen Welt, unabhängig davon, in welcher Kultur oder Sprache sie geboren wurden, produzieren die gleichen Lall-Laute, bei denen es sich meist um Konsonanten wie /b/, /m/, /d/, /t/ oder /p/ in Kombination mit einem Vokal handelt.
Bald versuchen sie, die Lautmuster an die sie umgebende Sprache anzupassen, variieren die Intonationskonturen und produzieren längere Konsonant-Vokal-Ketten. Die Struktur ändert sich von ein- zu zweisilbigen Lauten wie "baba-dada" oder "meme-dede". Nach zwei bis vier Monaten des Lallens passen Klang und Intonation des Babys ziemlich gut zu der Sprache, in der es aufwächst.
Diskutiert in in Paaren oder kleinen Gruppen:
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Haben deine Eltern oder Betreuungspersonen jemals über dein erstes Wort gesprochen? Weisst du, welches es war?
Hast du jüngere Geschwister o.ä., bei denen du die Phase des Lallens oder des Sprechens des ersten Wortes beobachten konntest? Wenn ja, wie erinnerst du dich daran?
Einheit 2: Der Weg zum ersten Wort
Im Alter von einem Jahr beginnen Säuglinge, vom Lallen zum Artikulieren ihres ersten Wortes überzugehen. Die heutigen Soziolinguist:innen sind sich darin einig, dass es eine Kontinuität zwischen dem Lallen und dem Aussprechen der ersten Wörter gibt – das Lallen ist also ein grundlegendes erstes Ausprobieren und Verstehen dessen, was sich später zu ganzen Wörtern, Phrasen und Sätzen entwickelt. Dennoch scheint das Lallen nicht entscheidend für die spätere Entwicklung der Sprache zu sein. Kinder, die nicht lallen konnten, lernten später trotzdem eine normgerechte Aussprache.
Die so genannten Prä- oder Proto-Wörter beziehen sich auf den ersten Gebrauch von konsistenten sprachlichen Äusserungen in bestimmten Kontexten. Eine solche Äusserung wird oft mit körperlichen Gesten oder Gesichtsausdrücken kombiniert. So kann beispielsweise die Äusserung eines initialen /h-/ beim Greifen nach einer Person für "etwas von jemandem holen" stehen. Um Wörter zu bilden, müssen Kinder in der Lage sein, mehrere der so genannten phonetischen Segmente (Einzellaute) zu produzieren. Ihre ersten Wörter haben dann oft eine Konsonant-Vokal-Struktur (CV), wie z. B. "Hallo" oder "Nein". Ein grundlegender Unterschied zur Lallphase besteht darin, dass hier den geäusserten Lauten oder Wörtern eine Bedeutung beigemessen wird – sie werden bewusst und zielgerichtet gewählt.
Die Babys fangen dann meist an, mit der Wortstruktur zu experimentieren, z. B. von CV zu CVC zu CV-CV und so weiter. In dieser Phase entwickeln die Kinder im Allgemeinen verschiedene Erwerbswege und sind meist auch wählerisch, welche Wörter sie zu produzieren versuchen oder vermeiden. Diese Selektivität hat ihre Wurzeln unter anderem in der Wahl der Laute während der Lallphase.
Solang Säuglinge noch nicht die gesamte Palette des artikulatorischen Programmes beherrschen, das für die Vielfalt der möglichen Wortformen in ihrer Sprache notwendig ist, bleiben Kinder in ihrer eigenen Produktion oft hinter der Aussprache der Erwachsenen zurück. Einige Laute werden weggelassen, andere werden ersetzt oder assimiliert. So ersetzen Säuglinge beispielsweise häufig den /sch/-Laut im Wort "Schal" mit einem einfachen /s/ und sprechen es dann als "Sal" aus.
Höre dir die beiden folgenden Audios an:
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Versuche nun, die Phasen (rot) den Audios (blau) zuzuordnen, indem du das rote Feld in das blaue ziehst und anschliessend die Antwort überprüft. Gerne darfst du noch folgende Fragen beantworten:
Warum hast du die Audios der jeweiligen Stufe zugeordnet?
Auf welche Merkmale hast du geachtet und was ist dir beim Hören aufgefallen?
Trivia
Für Säuglinge ist die nonverbale Kommunikation sehr wichtig für den Spracherwerb und ihre Entwicklung. Studien haben gezeigt, dass Säuglinge vor allem während der Covid-Pandemie, als die meisten Erwachsenen Gesichtsmasken tragen mussten, möglicherweise einen Teil ihrer Fähigkeit verloren haben, nonverbale Kommunikation zu lesen und zu interpretieren, und daher tendenziell andere Wege des Spracherwerbs einschlagen als solche mit normalem Zugang.
Abschliessende Gedanken für diese Lektion
Babys lernen in ihren ersten Monaten und Jahren enorm schnell. 'Zeit' sollte daher unbedingt relativ verstanden werden – so vergeht für Erwachsene ein Monat wie im Fluge. Für Kleinkinder jedoch ist ein Monat viel Zeit, in dem eine grosse Menge an neuen Informationen und Sprachfähigkeiten erworben werden.
Literatur
Eve V. Clark (2009). First Language Acquisition. London: Cambridge University Press.
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Eve V. Clark & Marisa Casillas (2015). First language acquisition. Routledge.
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William O’Grady (2005). How Children Learn Language. London: Cambridge University Press.