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HI-LING
LINGUISTIK AN MITTELSCHULEN
Lektion 3: Prosodie
Nachdem wir etwas über Vokale und Konsonanten gelernt haben, die den kleinsten Einheiten, den Sprachsegmenten der gesprochenen Sprache, entsprechen, wenden wir uns nun der Prosodie zu, bei der es um grössere Spracheinheiten geht. Prosodie ist das sogenannte „suprasegmentale“ Merkmal der Phonetik, das heisst, sie erstreckt sich über verschiedene („supra-“) Segmente der Sprache („-segmental“). Das bedeutet, dass es in der Prosodie um grössere Einheiten wie Silben, Wörter und ganze Phrasen geht. Bei der Prosodie geht es um Betonung, Intonation, Sprechtempo und -rhythmus der gesprochenen Sprache. Einfacher ausgedrückt geht es bei der Prosodie um „die Art und Weise, wie die Stimme eines Sprechers steigt und fällt“ (Cambridge Dictionary Online, https://dictionary.cambridge.org/dictionary/english/prosody). Auf diese Weise spielt die Prosodie eine wichtige Rolle bei der Verständlichkeit gesprochener Sprache, der Strukturierung des Diskurses, der Klärung von Absichten, der Darstellung von Emotionen usw. Prosodie ist für jede Sprache von entscheidender Bedeutung und daher eine Erkundung in diesem Kapitel wert!
Schlüsselkonzepte
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Betonung
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Intonation
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Rhythmus
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Sprachtempo
UNIT 1: Betonung
Der Begriff der Betonung beschreibt, wie bestimmte Wortteile, die als Silben bezeichnet werden, betont werden. Eine Silbe "enthält immer einen lauten oder betonten Teil (fast immer einen Vokal) und kann wahlweise konsonantische Laute vor oder nach dem Vokal haben" (einen oder mehrere) (Ashby & Maidment, 2005, S. 7, übersetzt von den Autor:innen dieses Moduls). Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass es sich bei einem Vokal pro Silbe um ausgesprochene Laute handelt, nicht um einzelne Buchstaben. Indem wir eine Silbe betonen, heben wir sie in unserer Sprache durch eine Kombination aus erhöhter "[...] Länge, Lautstärke und Tonhöhe" hervor. (Ashby & Maidment, 2005, S. 156, übersetzt von den Autor:innen dieses Moduls).
Die Betonung kann für das Verständnis bestimmter Wörter entscheidend sein. Im Deutschen zum Beispiel können Wörter je nach ihrer Aussprache etwas anderes bedeuten: zum Beispiel UMfahren vs. umFAHren haben unterschiedliche Bedeutungen.
Auch die Betonung wird in verschiedenen Sprachen unterschiedlich erzeugt und verwendet. In Sprachen wie Englisch gibt es immer eine betonte Silbe pro Wort. Je nach Sprache kann die Betonung fest oder variabel sein. In sogenannten Sprachen mit fester Betonung "[...] ist die Position der primären Betonung für die überwiegende Mehrheit der Wörter gleich" (Ashby & Maidment, 2005, S. 193, übersetzt von den Autor:innen dieses Moduls), zum Beispiel auf der letzten Silbe eines jeden Wortes, wie im Türkischen. Sprachen wie Deutsch und Englisch sind Sprachen mit variabler Betonung, d. h. "[...] die primäre Betonung ist nicht auf eine bestimmte Position im Wort festgelegt" (Ashby & Maidment, 2005, S. 200, übersetzt von den Autor:innen dieses Moduls). Das heisst aber nicht, dass man frei wählen kann, wo man die Betonung setzt. In den meisten Fällen liegt die Betonung obligatorisch auf einer bestimmten Silbe, je nach Wort(art).
Übung:
Trennt die folgenden Wörter in ihre Silben auf und kreist die betonte Silbe ein. Wenn es Wörter gibt, die unterschiedlich ausgesprochen werden können, gebt an, was die beiden Aussprachen bedeuten:
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Mail
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Hier
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Rhythmus
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Fotograf
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Fotografie
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ohne
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umfahren
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Balkon
Hast du die Übung abgeschlossen? Mail: /’Mail/ (eine Silbe) Hier /’hier/ (eine Silbe) Rhythmus /’Rhyth/mus/ (zwei Silben) Fotograf /Fo/to/’graf/ (drei Silben) Fotografie /Fo/to/gra/’fie/ (vier Silben) ohne /’oh/ne/ (zwei Silben) umfahren (zwei mögliche Lösungen) umfahren /um/’fah/ren/ = ausweichen umfahren /’um/fah/ren/ = etwas fahrend anstossen Balkon (zwei mögliche Lösungen) Balkon /’Bal/kon/ (Schweizer Standard) Balkon /Bal/’kon/ (Standarddeutsch)
Form: group, pair, individual, ...
UNIT 2: Sprechrhythmus, Sprechtempo und Intonation
Sprechrhythmus
Das Konzept des Sprechrhythmus ist nicht einfach zu definieren. Im Allgemeinen beschreibt Rhythmus sich wiederholende Muster von Klängen. Der Begriff wird auch in der Musik oder in Gedichten verwendet, wo es sich wiederholende Muster zu einem Takt oder zu einem bestimmten Metrum eines Gedichts gibt. In der Musik ist der Sprachrhythmus sehr wichtig, wie z. B. im Genre des Rap.
Den Rhythmus kann man herausfinden, indem man versucht, auf eine sich wiederholende Weise zu klatschen, die zur Aussprache eines Satzes passt. Auch die Zeit zwischen betonten Silben in einem Satz kann gemessen werden, um zu sehen, ob die Zeitabstände zwischen ihnen gleich sind. Auch die Länge der einzelnen Silben kann gemessen werden (normalerweise in Millisekunden).
Sprechtempo
Das Sprechtempo ist ein recht einfach zu verstehendes Konzept. Wir alle kennen Menschen, die in unterschiedlichem Tempo sprechen, schnell oder langsam. Dies hängt von verschiedenen Faktoren ab und kann z. B. je nach Sprecher:in, Satzlänge sowie Dialekten und Sprachen variieren. Wir alle kennen das Stereotyp, dass Berner:innen langsam sprechen, was von Leemann und Siebenhaar (2007) tatsächlich bestätigt wurde.
Bei der Betrachtung des Sprechtempos können wir entweder die Artikulationsgeschwindigkeit (ohne Pausen) oder die Sprechgeschwindigkeit (mit Pausen) messen. Das Sprechtempo wird in Spracheinheiten pro Zeiteinheit gemessen, normalerweise in Silben pro Sekunde.
Intonation
Intonation beschreibt die Variation der Tonhöhe. In Sprachen wie dem Englischen und dem Deutschen wird "[I]ntonation verwendet, um zu signalisieren, wie ein Sprecher seine Äusserungen zu interpretieren beabsichtigt" (Ashby & Maidment, 2005, S. 154, übersetzt von den Autor:innen dieses Moduls). Das bedeutet auch, dass ein bestimmter Satz unterschiedliche Bedeutungen ausdrücken kann, wenn er mit einem anderen Tonhöhenmuster produziert wird.
Die Intonation kann helfen, gesprochene Äusserungen zu strukturieren, so wie es die Interpunktion in der Schriftsprache tut. So verwenden wir zum Beispiel eine ansteigende Intonation vor Kommas. Intonation wird auch verwendet, um die Modalität eines Satzes zu signalisieren, um Fragen, Imperative oder Deklarative auszusprechen. Bei Ja-Nein-Fragen verwenden wir eine ansteigende Intonation am Ende des Satzes, wie bei der Frage Sprechen Sie Deutsch? Dies ist besonders wichtig, wenn der Satz mehrdeutig ist: Die Maus wurde von der Katze gefangen, ausgesprochen mit fallender Intonation am Ende, ist deklarativ. Mit steigender Intonation wird er zu einer Frage. Bei einfachen Aussagen sowie bei Wie- und Was-Fragen verwenden wir fallende Intonation. Imperative, wie Befehle mit Ausrufezeichen, werden mit fallender Intonation ausgesprochen. Befehle mit steigender Intonation (mit Punkt geschrieben) werden als höflicher empfunden.
Übung
Hört Euch das folgende Lied an.
Achtet auf den Rhythmus und das Sprechtempo. Welche Rolle spielen sie während des Liedes? Nehmt Ihr innerhalb des Liedes Unterschiede in Bezug auf Rhythmus und Sprechtempo wahr?
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Hast du die Übung abgeschlossen? In der Musik und insbesondere im Rap spielen Rhythmus und Sprechtempo eine sehr wichtige Rolle. Sprache wird auf die Musik abgestimmt, um sich dem Rhythmus der Musik anzupassen, aber sie verstärkt auch den Rhythmus. In dem Lied, das Ihr gehört habt, gibt es eindeutig zwei verschiedene Teile innerhalb desselben Liedes, die sich hauptsächlich durch Rhythmus und Sprechtempo unterscheiden. Der erste Teil des Liedes ist melodischer. Das Sprechtempo ist relativ langsam, der Rhythmus ist für ein Rap-Lied nicht außergewöhnlich stark akzentuiert. Bei etwa 2:26 Minuten gibt die Musik ein neues Tempo und einen neuen Rhythmus des Beats vor, der dann bei etwa 2:52 Minuten durch den Text angepasst wird. Dieser zweite Teil des Liedes zeichnet sich durch ein viel schnelleres Sprechtempo (Rap) sowie einen stark akzentuierten Rhythmus aus, der durch die Betonung von Silben im Einklang mit dem Takt in regelmäßigen Zeitintervallen erzeugt wird. Diese regelmäßigen Zeitintervalle erzeugen die wahrgenommene Rhythmik des Liedes.
Abschliessende Gedanken
Wir alle sind in der Lage, Prosodie zu nutzen, um gesprochene Sprache zu strukturieren, zu differenzieren und so effektiv wie möglich zu gestalten.
All dies geschieht in der alltäglichen Konversation automatisch, wir tun es, ohne die Theorie zu kennen. Diese Alltäglichkeit und die unbewusste Verwendung der Prosodie ist es auch, was es für uns so interessant macht, sie zu analysieren.
Die Theorie, die wir betrachtet haben, kann im Alltag in jedem Gespräch wahrgenommen werden und kann sogar bei Missverständnissen helfen, zum Beispiel beim Erlernen einer neuen Sprache.
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Quellen
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Ashby, M., & Maidment, J. (2005). Introducing Phonetic Science (Cambridge Introductions to Language and Linguistics). Cambridge: Cambridge University Press. doi:10.1017/CBO9780511808852
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Jacewicz, E., Fox, R. A., & Wei, L. (2010). Between-speaker and within-speaker variation in speech tempo of American English. The Journal of the Acoustical Society of America, 128(2), 839–850. https://doi.org/10.1121/1.3459842
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Leemann, A., & Siebenhaar, B. (2007). Intonational and Temporal Features of Swiss German.
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Li, W. (2021). British English-Speaking Speed 2020. Academic Journal of Humanities & Social Sciences, 4(5), 93-100. https://doi.org/10.25236/AJHSS.2021.040517.
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Travis Scott. (2023, July 28). Travis Scott - MY EYES (Official Audio) [Video]. YouTube. Retrieved November 5, 2023, from https://www.youtube.com/watch?v=pildU9lK6vM