top of page

Lektion 3: Sprache und Identität

Identität bezeichnet die Gesamtheit vieler verschiedener Eigenschaften, die sich ein Individuum selbst zuschreibt. Die Schnittstellen zwischen Sprache und Identität sind vielseitig. Dazu gehört, dass sprachlicher Ausdruck stets Identitätsmerkmale trägt und somit unbewusst auf die Sprecher:innen-Identität verweist. Damit die eigene Identität bewusst ausgedrückt werden kann, benutzt man Erzählungen über die eigene Identität. Diese werden sowohl vom Individuum selbst als auch von anderen benutzt und müssen in ihrem Spannungsverhältnis balanciert werden.

Schlüsselkonzepte

  • Kulturelle und soziale ldentität

  • Persönliche Identität

  • Identität ist vielschichtig

  • Sprache ist multimodal

  • Identität wird perfomt und ist veränderbar

  • Narrationen sind identitätsstifend und müssen kohärent sein

EINHEIT 1: WIE SAGEN WIR HALLO?

Wir starten direkt mit einer kurzen Übung zum Aufwärmen. Nimm dir eine Minute Zeit, die verschiedenen Begrüssungen zu vergleichen und beantworte die folgenden Fragen:

  • Worin bestehen die Unterschiede zwischen den Äusserungen? 

  • Was weisst du über die sprechende Person?

  • Was weisst du über die adressierte Person?

  • Wie verändert sich die Gesprächssituation, wenn die Intonation der Äusserungen verändert wird (= höhere/tiefere, lautere/leisere Aussprache, Sprachmelodie)?

Sprechblasen.jpg

Die verschiedenen Äusserungen zeigen, dass durch eine einzige Grussformel bereits viel über eine:n Sprecher:in gesagt werden kann. Wenn jemand mit «Goede dag» grüsst, schreibt man dieser Person eine nationale und damit kulturelle Identität zu (niederländisch/flämisch). Dies unterscheidet sich von der deutschen Grussformel «Guten Tag» und von der schweizerischen Grussformel «Grüessech/Grüezi». Gleichzeitig unterscheiden sich diese Grussformeln dialektal. Die kulturelle Identität lässt sich also nicht nur in Länder oder einen deutschen Sprachraum unterteilen, sondern kann auch in kleinere Kulturräume wie Kantone unterschieden werden. 

 

Bei der Grussformel «Grüessech» kann man zudem feststellen, dass sich die grüssende Person entweder in einer Hierarchie zu der adressierten Person befindet oder dass sich die Gesprächsteilnehmenden nicht (gut) kennen. Dieses Verhältnis zwischen Personen beschreibt man auch als soziale Identität. Im Vergleich dazu befindet sich die sprechende Person in einer Sprechsituation mit mehreren Teilnehmenden, die sie besser kennt und mit denen keine unterschiedlichen Hierarchien bestehen, wenn sie «Hoi zäme» sagt. Ein ähnliches soziales Verhältnis ist auch bei dem Gruss «Hey Digga» erkennbar, wobei da auch noch ein ungefähres Alter der Gesprächsteilnehmenden vermutet werden kann. Dass man mit dem Gruss «Grüessech» so viele Aspekte der Identität von Gesprächsteilnehmenden gleichzeitig ausdrücken kann, zeigt, dass Identität mehrschichtig ist. 

 

Am Beispiel «Grüessech» lässt sich noch eine weitere Eigenschaft von Sprache erklären, die Einfluss auf die damit verbundene Identität hat. Stell dir vor, du begrüsst eine gute Freundin oder einen guten Freund mit «Grüessech». Vermutlich würdest du die Begrüssung höher betonen, als wenn du jemand Fremdes damit grüsst. Durch diese Betonung verleihst du der Begrüssung die Ironie, die anzeigt, dass du und dein Gegenüber euch eigentlich sehr gut kennt und deshalb diese Grussformel unpassend ist. Du kannst dies auch mit weiteren Begrüssungen ausprobieren, indem du diese in Kontexten oder Situationen benutzt, die nicht dazu passen. Du wirst vermutlich bei allen eine veränderte Intonation feststellen. Wir sehen also: Sprache funktioniert nicht nur durch Worte. Zusätzlich kann sie Bedeutung durch Intonation (paraverbal) und nonverbale Signale wie Gestik und Mimik vermitteln. Dies wird als die Multimodalität der Sprache bezeichnet. Sie gibt uns mehr Möglichkeiten, zwischen sozialen Identitäten zu unterscheiden.

Ein weiterer wichtiger Teil der Identität macht unsere persönliche Identität aus. Diese wird gerne mit Adjektiven beschrieben. Wir versuchen in der ersten Übung etwas besser zu verstehen, was damit gemeint ist.

Bildschirmfoto 2024-01-29 um 11.26.16.png

Nimm dir zunächst noch einmal eine Minute Zeit, um über deine eigenen, persönlichen Antworten auf diese Fragen nachzudenken.    

  • Welche Aspekte deiner eigenen Identität sind für dich am wichtigsten?   

  • Wie zeigst du deinen Mitmenschen all diese Aspekte?   

  • Zur Hilfe: Denk an sichtbare Merkmale, die du so anpassen kannst, dass sie zu deiner Persönlichkeit passen, wie etwa Kleidung oder Make-up.   

  • Du kannst auch darüber nachdenken, wie du deine Sprache, deine Gestik oder deinen Gesichtsausdruck an die Menschen anpasst, mit denen du sprichst.    

 

Bildet nun kleine Gruppen von 3–4 Personen und vergleicht Eure Antworten miteinander. Nachdem Ihr Eure Ergebnisse ausgetauscht habt, stellt Euch gegenseitig die folgende Frage:

  • Warum stellt Ihr Eure Identität ähnlich oder eher verschieden dar?

EINHEIT 2: WER MÖCHTEST DU SEIN?

Nachdem du dich nun mit deiner persönlichen Identität auseinandergesetzt hast, können wir uns dem Bereich der Soziolinguistik aus einem abstrakteren Blickwinkel nähern, indem wir die Ergebnisse deiner ersten Übung nutzen. Du hast untersucht, wodurch sich deine Identität von der aller anderen unterscheidet. Vielleicht hast du auch untersucht, wie die Einzigartigkeit dieser Identitätsmerkmale von der sozialen Gruppe abhängt, der du dich zuordnest. Während du zum Beispiel in deiner Freundesgruppe der Tennisfan bist, könntest du in Gesprächen mit Familienmitgliedern mehr auf deine Identität als musikalische Person hinweisen, da alle Tennis mögen, du aber die einzige Person bist, die ein Instrument spielt. Die Art und Weise, wie wir diese verschiedenen Aspekte unserer Identität in bestimmten Situationen hervorheben können, ähnelt einer Aufführung in einem Theaterstück. Wenn wir annehmen, dass Identität immer gespielt (=performt) wird, bedeutet dies auch, dass wir sie in bestimmten Situationen bewusst verändern können, je nachdem, wie wir wahrgenommen werden wollen. Da wir sie je nach Situation oder sozialer Gruppe, in der wir uns befinden, anpassen können, können wir sie auch im Laufe der Zeit verändern. Das bedeutet, dass unsere dargestellte persönliche Identität niemals statisch ist. Vielmehr ist sie ein sich ständig entwickelndes Konstrukt.

 

Aber wie werden diese sich ständig verändernden Identitätsmerkmale dargestellt? Während du deine Identität vielleicht durch die Wahl deines Kleidungsstils oder durch eine Veränderung der Sprache vermittelst (wie du in der Diskussion herausgefunden hast), gibt es noch einen weiteren Faktor, der einen grossen Einfluss darauf hat, wie wir die Fremdwahrnehmung unserer Identität gestalten. Um dies zu veranschaulichen, schauen wir uns noch einmal das Beispiel von vorhin an. Wir gehen davon aus, dass die beiden Eigenschaften «musikalisch sein» und «Tennis mögen» Teil deiner Identität sind. Wenn du beispielsweise jemanden kennenlernst, sagst du ausdrücklich (=explizit), dass du Tennis magst. Wenn du hingegen deiner Familie von der letzten Orchesterprobe erzählst, drückst du indirekt (=implizit) deine Identitätseigenschaft "musikalisch sein" aus. Diese Geschichten, die wir erzählen, bezeichnen wir als Narrative unserer eigenen Identität, durch die wir unsere Identität aktiv konstruieren. Narrative sind also identitätsstiftend. Als Geschichtenerzähler:innen lenken wir die Wahrnehmung anderer Menschen, und es ist sehr wichtig, dass das, was wir ihnen erzählen, kohärent ist. Das bedeutet, dass andere Menschen unsere Erzählungen für glaubwürdig halten und das Gefühl haben, dass unsere Narrationen mit unserer Identität übereinstimmen.

Schau dir von diesem Video die Minuten 13:20–16:40 an und beantworte die folgenden Fragen dazu:

 

Bleisch über seine Herkunft: 

  • Wie viele Narrative kannst du in diesem Clip finden?

  • Wer sind die (an-/abwesenden) Beteiligten dieser Erzählung(en)? 

  • Welche spezifischen Identitätsmerkmale werden von Lobrecht in diesem kurzen Ausschnitt des Gesprächs dargestellt?

  • Ist er damit zufrieden, wie die Medien ihn und seine Herkunft in der Öffentlichkeit darstellen? Warum? Warum nicht?

Bildschirmfoto 2024-01-29 um 11.26.39.png

Abschliessende Gedanken für diese Lektion

 

Aus den soziolinguistischen Erkenntnissen, die du in der gerade bearbeiteten Lektion gewonnen hast, lassen sich weitere spannende Überlegungen anstellen. Wir können uns beispielsweise fragen, wie stark wir die Fremdwahrnehmung unseres Selbst tatsächlich beeinflussen können? Oder: Was bedeutet die Performance der Identität für Geschlechtsidentitäten bzw. Gender?

Weiterführende Literatur

Werani, A. (2023). Sprache und Identität. Eine Einführung. Tübingen: Narr Verlag.

bottom of page