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HI-LING
LINGUISTIK AN MITTELSCHULEN
Lesson 3: Mehrsprachigkeit: Fallstudie Schweiz, Beispiel Biel/Bienne
Definition:
Mehrsprachigkeit bedeutet, dass in Kommunikationssituationen zwei oder mehrere Sprachen genutzt werden können. Dies gilt sowohl für den individuellen Sprachgebrauch als auch für den Sprachgebrauch im Kontakt mit Behörden und Institutionen. Dazu gehören auch Regionalsprachen oder Dialekte.
Schlüssel-konzept
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Verschiedene Mehrsprachigkeiten
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Mehrsprachigkeit in der Schweiz
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Gelebte Zweisprachigkeit in Biel/Bienne
Einheit 1: Mehrsprachigkeit in der Schweiz
Territoriale Mehrsprachigkeit: Die Koexistenz von mehreren Sprachen auf ein und demselben Territorium.
Institutionelle Mehrsprachigkeit: Sprachen von Mitgliedern einer Institution oder von Geschäftspartner:innen werden gleichwertig behandelt, wie es in der Europäischen Union oder an Universitäten der Fall ist.
Gesellschaftliche Mehrsprachigkeit: Der Gebrauch von mehreren Sprachen innerhalb einer Gesellschaft, z.B. in multiethnischen Stadtteilen.
Konsensuelle Mehrsprachigkeit: Staaten wie Belgien, Kanada, Südafrika und die Schweiz praktizieren eine einvernehmliche Mehrsprachigkeit. Dies bedeutet eine Koexistenz von Sprachen innerhalb eines Staates. Dieses Nebeneinander von Sprachen ist rechtlich geregelt. Wenn das Nebeneinander von Sprachen nicht konsensuell ist, wenn also eine dominante Gruppe ihre Sprache einer Minderheitengruppe aufzwingt, führt das zu sprachlicher Diskrimination oder Assimilation.
Wie funktioniert die multilinguale Schweiz?
Die Mehrsprachigkeit in der Schweiz ist ein wesentlicher Bestandteil der schweizerischen Identität und ein Modell für den Umgang mit kultureller und sprachlicher Vielfalt. Sie trägt zur Einheit und zum Verständnis zwischen den verschiedenen Regionen des Landes bei. Die Schweiz schützt ihre Landessprachen durch die Bundesverfassung. Alle vier Amtssprachen haben den gleichen rechtlichen Status und Bürger:innen können in ihrer Muttersprache mit Behörden kommunizieren. Das Bildungssystem passt sich der Sprache der Region an. Gebiete mit zwei Amtssprachen bieten zweisprachige Unterrichtsmodelle an. Fremdsprachenunterricht beginnt spätestens im 5. Schuljahr, eine zweite Sprache, meistens Englisch, wird spätestens im 7. Schuljahr unterrichtet. Staatlich unterstützte Medien und der Bundesrat sind sprachlich ausgewogen und Gesetze werden in allen Amtssprachen veröffentlicht. Die Mehrsprachigkeit in der Schweiz nimmt deutlich zu. Neben den vier Landessprachen und Dialekten werden bis zu 250 Sprachen gesprochen. Am auffälligsten ist, dass Englisch deutlich an Anteil gewinnt und sich schon fast wie eine fünfte Landessprache anfühlt. Die Deutschschweiz hebt sich nicht nur durch die Anzahl, sondern auch durch die funktionale Bedeutung des Schweizerdeutschen im Vergleich zur Standardsprache hervor. In familiärem und privatem Rahmen wird hauptsächlich Schweizerdeutsch gesprochen, während die Standardsprache in formellen Bereichen wie Bildung, Politik und Wirtschaft verwendet wird: eine Form der Diglossie. Französisch ist die Landessprache, die seit 1970 an Bedeutung gewonnen hat, vor allem durch Zuwanderung aus romanischen Sprachräumen. Italienisch bleibt die dritthäufigste Sprache, wobei viele junge Menschen aus wirtschaftlichen Gründen ihre Sprachregion verlassen. Rätoromanisch, in Graubünden gesprochen, erfährt trotz staatlicher Fördermassnahmen einen Rückgang, während der Tourismus den Anteil der Deutschsprachigen in rätoromanischen Gemeinden steigen lässt.
Einheit 2: Gelebte Zweisprachigkeit in Biel/Bienne
Von Minute 06.00–08.00 wird in diesem Video auf die besondere Sprachsituation eingegangen. Schau es dir an, bevor du den folgenden Text liest.
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Biel/Bienne ist die grösste zweisprachige Stadt des Landes und seit 1996 offiziell zweisprachig. In Biel/Bienne herrscht eine konsensuelle Zweisprachigkeit, wobei Deutsch und Französisch als gleichberechtigte Amtssprachen gelten. Etwa 57 % der Einwohner:innen sprechen Deutsch, während der französischsprachige Anteil bei etwa 43 % liegt. Die Stadt an der Schnittstelle zwischen deutsch- und französischsprachiger Schweiz praktiziert das „Bieler Modell“, eine Kommunikationsregel im öffentlichen Raum, bei der die Person, die ein Gespräch beginnt, die Sprache bestimmt und sich die Gesprächspartner:innen anpassen, auch wenn sie die Sprache nicht gleich gut beherrschen. Diese Anpassung der Sprache ist ein Zeichen für den respektvollen Umgang im Alltag. Die Stadt verfügt über deutsch- und französischsprachige Schulen, einige bieten bilingualen Unterricht an. Seit 2018 gibt es das Projekt Filière Bilingue, das zweisprachigen Unterricht vom Kindergarten bis zum Gymnasium anbietet.
Die gelebte konsensuelle Zweisprachigkeit spiegelt sich im Alltag, in der Wirtschaft und der kulturellen Vielfalt. Öffentliche Verkehrsmittel, Gebäude und Strassennamen sind zweisprachig beschriftet. Die politischen Parteien, Medien und kulturellen Einrichtungen sind zweisprachig ausgerichtet. Die Zweisprachigkeit wird als Vorteil für den Wirtschaftsstandort betrachtet, insbesondere für die weltweit vernetzte Uhren- und Präzisionsindustrie. Enrique Munoz Garcia, ein chilenischer Fotograf, bezeichnet Biel/Bienne als die kosmopolitischste Stadt der Welt und dokumentiert dies in einer Dauerausstellung. Das interkulturelle Verständnis und die Zusammenarbeit zwischen den deutsch- und französischsprachigen Gemeinschaften werden durch zahlreiche Treffpunkte in den Quartieren gefördert. Das älteste autonome Jugendzentrum der Schweiz, "Chessu" oder "La Coupole", bietet Bands und Künstlern eine Plattform. Der EHC Biel repräsentiert das Selbstbewusstsein der Stadt im Eishockey mit dem Slogan: "Ici c’est Bienne!" Insgesamt ist die Zweisprachigkeit ein bedeutender Aspekt der Identität von Biel/Bienne, der Menschen aus über 140 Ländern der ganzen Welt anzieht, und Biel/Bienne ein herausragendes Beispiel für gelebte Zweisprachigkeit in der Schweiz.