Lektion 1: Was ist Bilingualismus?
Defintion:
Häufig werden Zweisprachigkeit und auch Mehrsprachigkeit als die Verwendung von zwei oder mehr Sprachen (oder Dialekten) im täglichen Leben definiert. Wir werden aber gleich sehen, dass Zweisprachigkeit viel komplexer ist.
Schlüssel-konzepte
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individueller Bilingualismus vs. gesellschaftlicher Bilingualismus
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ausgeglichene Zweisprachigkeit vs. dominante Zweisprachigkeit vs. passive/ rezessive Zweisprachigkeit
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natürlicher Erwerb vs. gesteuerter (oder schulischer) Erwerb
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simultaner vs. sequentieller (oder konsekutiver) Bilingualismus
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frühe Zweisprachigkeit vs. späte Zweisprachigkeit
Was ist Bilingualismus?
Zweisprachigkeit ist ein dynamisches und vielschichtiges Konzept, das die Fähigkeit umfasst, zwei (oder mehr) Sprachen zu verwenden. Es geht nicht nur darum, zwei Sprachen zu kennen; es geht darum, effektiv zwischen ihnen wechseln zu können. Zweisprachige Personen haben die Fähigkeit, nahtlos zwischen den Sprachen zu wechseln, abhängig vom Kontext und Anwendungsbereich, wie zum Beispiel den Personen, mit denen sie sprechen (Familie, Freund:innen, Chef:in usw.), dem Ort, an dem sie sich befinden (zu Hause, Schule, Arbeit usw.) und dem Kommunikationsthema (z. B. ob eine bestimmte Sprache für ein bestimmtes Thema verwendet wird). Es ist nicht ganz einfach, den Begriff Zweisprachigkeit zu definieren. Das Hauptproblem ist, dass viele Forscher:innen sich nicht einig sind, was es heisst, eine Sprache zu beherrschen. Für einige ist das blosse Sprechen in zwei Sprachen Bilingualismus, während für andere Zweisprachigkeit bedeutet, zwei Sprachen perfekt zu können. In dieser Lektion werden wir den Begriff Bilingualismus aus verschiedenen Perspektiven betrachten. Dafür werden wir zunächst den individuellen vom gesellschaftlichen Bilingualismus unterscheiden.
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Individueller Bilingualismus
Die individuelle Zweisprachigkeit bezieht sich auf einzelne Sprecher:innen. Früher bezeichnete man nur Personen als zweisprachig, die die gleiche Kompetenz in beiden Sprachen besitzen. Heute geht man davon aus, dass die perfekte Zweisprachigkeit die Ausnahme bildet. Auf der einen Seite gibt es ausgeglichene Zweisprachige (balanced bilinguals), die in beiden Sprachen vollständig kompetent sind. Auf der anderen Seite gibt es dominante Zweisprachige (dominant bilinguals), die eine Sprache besser beherrschen als die andere. Manchmal führt dieser dominante Bilingualismus zu passiver oder rezessiver Zweisprachigkeit. Ein Beispiel für passiven Bilingualismus könnte ein Szenario sein, in dem eine Person zwar Deutsch und Englisch versteht, aber nur aktiv Englisch spricht. Rezessiver Bilingualismus würde bedeuten, dass ein Kind, das beispielsweise von klein auf sowohl Französisch als auch Spanisch gelernt hat, im Laufe der Zeit vermehrt auf Spanisch umsteigt, da es für diese Person nun die dominante Sprache im Alltag ist.
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Darüber hinaus können Individuen Zweisprachigkeit durch verschiedene Kontexte erwerben. Zweisprachigkeit kann z.B. in einer mehrsprachigen Familie im Kindesalter natürlich erworben werden (natürlicher Erwerb oder natürlicher Bilingualismus), oder durch Sprachunterricht (gesteuerter/schulischer Erwerb oder gesteuerter/schulischer Bilingualismus). Simultaner Bilingualismus liegt vor, wenn Kinder beide/mehrere Sprachen von klein auf erwerben (z.B. wenn beide Elternteile eine andere Sprache sprechen), während sequentiell oder konsekutiv Zweisprachige zuerst eine Sprache lernen und später eine weitere erwerben. Zweisprachigkeit klassifiziert auch Individuen in frühe Zweisprachige (early bilinguals), die früh in der Kindheit beiden/mehreren Sprachen ausgesetzt waren, und späte Zweisprachige (late bilinguals), die erst nach der Kindheit zweisprachig werden.
Übung 1
Diskutiert in einer Gruppe von zwei bis vier Personen und beantwortet Fragen zu den vorgegebenen Szenarien. Wählt ein Szenario aus der folgenden Liste aus, welches Ihr gerne in der Gruppe besprechen würdet:
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Vorstellungsgespräch: Ihr bewerbt Euch um eine Stelle in einem multinationalen Unternehmen, in dem beide Eure Sprachen weit verbreitet sind.
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Familientreffen: Eure Familie veranstaltet ein grosses Familientreffen mit Verwandten, die verschiedene Sprachen sprechen.
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Reise ins Ausland: Ihr plant eine Reise in ein fremdes Land, in dem Ihr eine der Amtssprachen beherrscht, aber nicht die andere.
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Erfahrung im Klassenzimmer: Stellt Euch vor, Ihr seid Schüler:innen an einer Schule, in der zweisprachiger Unterricht gefördert wird.
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Bewahrung der Sprache: Ihr gehört zu einer Gemeinschaft, in der eine Muttersprache vom Verschwinden bedroht ist.
Aktivität 1: Gruppendiskussion
Nachdem Ihr ein Szenario ausgewählt habt, könnt Ihr versuchen, die untenstehenden Fragen gemeinsam zu beantworten. Macht Euch Notizen zu Eurer Diskussion, da die Szenarien anschliessend in der Klasse diskutiert werden könnten.
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Welchen Herausforderungen/Möglichkeiten könnte eine zweisprachige Person in diesem Kontext begegnen?
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Wie wirkt sich der Grad der Zweisprachigkeit auf die Erfahrungen in dieser Situation aus?
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Welche Art von Zweisprachigkeit (z. B. natürliche, schulische, simultane, sequentielle Zweisprachigkeit,...) treffen wir in dieser Situation möglicherweise an?
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âžœ Lösungsvorschläge am Ende dieser Seite
Gesellschaftlicher Bilingualismus
Gesellschaftliche Zweisprachigkeit oder Mehrsprachigkeit bezieht sich darauf, dass auf einem bestimmten Gebiet mehrere Sprachen gesprochen werden. Dies tritt in der Regel in Regionen auf, in denen Sprachminderheiten leben, wie zum Beispiel im Baskenland (Spanien) oder in Südtirol (Italien). Hier haben nicht alle Einwohner:innen die gleiche Sprache als Erstsprache. Eine seltener anzutreffende Situation ist die territoriale Mehrsprachigkeit, wie sie in der Schweiz vorkommt, wo jede der Landessprachen in einem eigenen Gebiet gesprochen wird (zum Beispiel Italienisch im Tessin oder Französisch in der Romandie). Menschen, die in diesen Gebieten leben, können ihre Erstsprache in allen Institutionen und Situationen verwenden.
Einige Regionen sind sogenannte Sprachkontaktzonen, in denen Sprecher:innen unterschiedlicher Sprachen regelmässig miteinander interagieren. In vielen Fällen kann dies zu Entlehnungen (die Übernahme von Wörtern oder Ausdrücken aus einer Sprache in eine andere) oder zu Code-Switching (das Wechseln zwischen zwei oder mehr Sprachen innerhalb einer Gesprächssituation) führen (siehe Lektion 4).
Gesellschaftliche Zweisprachigkeit kann einen erheblichen Einfluss auf Kultur (z. B. Kunst, Musik, Küche), Bildung (z. B. Angebote für zweisprachige Bildung) und Kommunikation innerhalb einer Gemeinschaft oder eines Landes haben (siehe Lektion 3).
Übung 2
Die Schweiz ist ein grossartiges Beispiel für gesellschaftliche Zweisprachigkeit und Mehrsprachigkeit. Nutze nun Online-Tools, um nach Beispielen für Fälle von gesellschaftlicher Zweisprachigkeit auf der ganzen Welt zu recherchieren. Suche nach Regionen, Städten oder Gemeinden, in denen mehrere Sprachen im täglichen Leben verbreitet sind. Identifiziere ein Beispiel und notiere einige interessante Fakten dazu. Berücksichtige Aspekte wie offizielle Zweisprachigkeit oder multikulturelle städtische Gebiete. Du kannst für diese Aufgabe zuverlässige Quellen wie Regierungswebsites, wissenschaftliche Artikel oder Nachrichtenquellen für deine Recherche verwenden.
Diese Aufgabe ist eine Einzelarbeit, aber du kannst dir Notizen machen, damit du diese Punkte mit Klassenkamerad:innen besprechen kannst oder darauf zurückgreifen kannst, wenn du andere Lektionen dieses Moduls erforschst.
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